Neues Buch zur Kinderspielstadt von  Kultur & Spielraum e.V.

Anlässlich des 40 jährigen Jubiläums von Mini-München gibt Kultur & Spielraum e.V. ein Buch heraus.

Das Buch ist über den Verlag Kopaed oder Kultur & Spielraum e.V. zu

beziehen:  Ursulastr. 5, 80802 München, Tel. 089/341676,

 

info@kulturundspielraum.de (€ 18,80  + Porto)

Dazu schreiben Gerd Grüneisl und Joscha Thiele:

Die ersten 40 Jahre : Zur Einführung in die Spielstadt 

       

Das 40-jährige Jubiläum der Spielstadt Mini-München ist für Kultur & Spielraum e.V. der Anlass zur Veröffentlichung dieses Buches. Einige unserer Mitarbeiter*innen organisieren die Spielstadt seit Jahren oder sogar von der ersten Stunde an, andere haben zunächst als Kind mitgespielt oder Mini-München erst vor wenigen Jahren kennengelernt. Gleichviel, das 1979 ins Leben gerufene Projekt ist allen der gemeinsame Referenzrahmen und die verbindende Erfahrung. Es hat uns gelehrt: „Praxis ist schön, macht aber viel Arbeit“, wie es auch im "Handbuch für Spiel, Kultur, Umwelt" [1] von 1989 steht, in dem das Spielstadtprojekt detailliert beschrieben ist. Zur Orientierung entlang der handlungsleitenden Ideen, die der Spielstadt zugrunde liegen, und bezüglich der konzeptionellen und organisatorischen Arbeit, die sie erfordert, taugt besagtes Handbuch auch heute noch. Aus diesem Grund fiel es uns leicht, dreißig Jahre später von einer nochmaligen ausführlichen Selbstbeschreibung abzusehen.

Dieses Buch vermittelt keine praktische Anleitung zur Durchführung einer Spielstadt, sondern widmet sich bewusst der eingehenden Reflexion des Projekts in seinen unterschiedlichen Dimensionen. Es erwächst aus einem Bedürfnis der kritischen Selbstbefragung wie der erneuten Selbstvergewisserung über das Spiel – denn auch Spiele können unzeitgemäß werden. Dazu haben wir Weggefährt*innen und Expert*innen eingeladen, der Spielstadt auf den Grund zu gehen. Eigene Tiefenbohrungen erfolgen zwangsläufig alle zwei Jahre mit Beginn einer neuen Spielstadt, werden aber in der Regel wieder hinten angestellt, wenn die Praxis sie überrollt: Es bleibt wenig Raum zum Nachdenken, weil vor und nach einer Spielstadt immer auch andere Projekte auf ihre Bearbeitung warten. Mit der Veröffentlichung erhoffen wir uns einen erneuten Impuls für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema vor einem erweiterten Horizont. 

Die Beiträge legen den Fokus nicht allein auf das Spiel, sondern verweisen auch auf seine Verbindungen zu Ästhetik, Kultur und politischer Teilhabe von Kindern, die in den Bildungsdiskussionen der frühen Spielstadtjahre nur marginal thematisiert wurden. Gemeinsam ist den Texten, dass sie die Spielstadt zum einen als Konzept befragen, zum anderen aber als pädagogische „Aufführung“, als soziales Ereignis wie kulturelles Handlungsfeld, begreifen – so ist auch der Begriff des “Phänomens” im Untertitel des Buches zu verstehen. Jedem Beitrag geht ein Besuch, eine Erfahrung der Spielstadt voraus. In ihren Überlegungen verfolgen die Aufsätze nicht das Ziel einer erschöpfenden Beschreibung, sondern wählen jeweils eigene Zugänge und setzen unterschiedliche Akzente. Sie deuten dabei die Dynamik und den Charme, aber auch die “Unklarheiten” und Spannungen an, welche die Spielstadt zu einem so reiz- wie reibungsvollen, produktiven Arbeitsfeld machen – seit 40 Jahren in München, aber auch weit darüber hinaus. Spielstädte nach dem Vorbild Mini-Münchens gibt es heute in vielen Städten wie beispielsweise in Kairo, Luxembourg, Salzburg oder Yokohama. Wie es, ausgehend von Spielaktionen auf Münchner Grünflächen und Spielplätzen, dazu – und zu diesem Buch – kommen konnte, sei im Folgenden kurz umrissen.

Ein Projekt aus bewegten Zeiten

In einer Zeit gesellschaftlicher Aufbrüche entwickelten sich künstlerische und pädagogische Konzepte mit ähnlichen Ansätzen wie die Spielstadt in den Siebziger Jahren nahezu zeitgleich auch in anderen Städten in Deutschland (siehe den Beitrag der AG Spielclub). Sie zeugen von einem gesteigerten Interesse am kindlichen Spiel als Form des ästhetischen und sozialen Handelns und seinem Platz im öffentlichen Raum und entstanden in dem produktiven Spannungsfeld einer emanzipatorisch orientierten Pädagogik und einer neuen Programmatik der Demokratisierung des Ästhetischen.

In München entwickelte eine Gruppe junger Kunsterzieher*innen – angeregt von der in den 50er – 70er Jahren von einer künstlerischen Avantgarde vorangetriebenen Neuformulierung ästhetischer Praxen und Sichtweisen durch Happening, Performance, Konzept- und Aktionskunst – ein neues Verständnis ästhetischer Bildung, das den Rahmen der Schule sprengte. Sie suchten die Entwicklung von Kreativität als leibliche Praxis zu begreifen, und damit die Bedeutung von Affektivität und sinnlicher Wahrnehmung in Aktion anzuerkennen. Dies führte notwendigerweise zu einer Kritik an der Struktur schulischer Lernsituation: ihre Themen          wurden zwar der Kunst entlehnt, aber dann im Format des Zeichenblocks als Technikübung  trivialisiert; darüber hinaus reglementierten die Zeitrhythmen und Raumaufteilungen der Schule das Geschehen. Der Versuch, das Ästhetische in konkrete soziale wie auch politische Handlungszusammenhänge einzubinden und Kinder in ihren expressiven und experimentellen Handlungsformen ernstzunehmen, führte daher aus dem Klassenzimmer heraus in die Stadt.

So kam es zu gemeinsamen Aktionen mit Kindern und Jugendlichen im öffentlichen Raum, die sich dem Zugriff der überlieferten kunsterzieherischen Praxis entzogen. Die Bezüge dieser alternativen ästhetischen Aktionen entstammten dabei nicht mehr nur dem kulturellen Archiv, also dem, was schon als Kunst abgespeichert war, sondern erweiterten sich auf den profanen Raum des Alltäglichen. Ziel war es, die Verengung des Begriffs Ästhetik auf die Kunst und ihre Hervorbringungen zu revidieren, und sich auf den Wortsinn der Aisthesis zurück zu besinnen: die Wahrnehmung. Diese sollte verstärkt auf die Strukturen und Erscheinungen der Lebenswelt, der gesamten Gesellschaft gerichtet werden. Nach heutigem Verständnis waren die Aktionen performative Aufführungen, welche auch kritische Gesellschaftsprobleme nicht außen vor ließen: Beispielsweise wurden am Odeonsplatz Luftballons an den Auspuffrohren der haltenden Autos aufgeblasen, als buntes Kunstobjekt auf einem Gitterwagen gestapelt, und die Abgase dann zur Mülldeponie gebracht. Sie wurden so zum Medium einer künstlerisch gerahmten Umweltaktion. Ebenso wie der Trauerzug um eine abgestorbene Ulme, die das Stadtgartenamt für eine Aktion zum Baumsterben an den Rindermarkt lieferte, wo ihr mit bunten Vögeln und einem Mond aus Pappmaschee ein feierliches Begräbnisfest bereitet wurde.

Der didaktische Einsatz bestand darin, die sinnliche Wahrnehmung neu und anders zu mobilisieren und einen erweiterten Erfahrungsmodus für die Kinder und Jugendlichen herzustellen. Die so eröffneten Aktionsräume waren in ihrer Nutzung nicht festgelegt und ließen auch Realisierungen zu, die weder geplant noch vorhergesehen waren. Das Verhältnis von Akteur*innen und Zuschauenden organisierte sich neu, war niemals eindeutig und konnte jederzeit neu bestimmt werden. Es ging nicht mehr um formale Kunstvermittlung, sondern um die Ermöglichung vielfältiger Ausdrucksformen in der Spannung zwischen Individuum und der Gemeinschaft der jeweils Beteiligten. Befördert wurde diese Kulturarbeit emanzipatorischen Anspruchs durch die theoretische Fundierung von Hilmar Hofmann und vor allem Hermann Glasers mit den neuen Programmatiken wie „Kultur für alle“ oder dem „Bürgerrecht Kultur“. Ein gewichtiges Stichwort lieferte auch der Künstler Josef Beuys mit der „Sozialen Plastik“, die eine Grenzüberschreitung vom kulturellen Feld der Künste hin in die Lebenswirklichkeit der Gesellschaft markierte.                           

Kinder erfinden ihre Stadt

Als "Pädagogische Aktion” führte die Gruppe in den Jahren vor der ersten Spielstadt 1979 zahlreiche materialintensive Spielaktionen im Münchner Stadtgebiet durch. Diese mobilen, aktionsbetonten Spielplatzbetreuungen (Aktion Spielbus, Start 1972 zur Olympiade) wurden schon mit Beginn der 70er-Jahre durch das Stadtjugendamt und sein Jugendkulturwerk befördert und finanziert.

Dabei entstanden aus Pappe und später aus Holz regelmäßig wildwüchsige Bauten und ganze ephemere Siedlungen. Im Englischen Garten, hinter dem Haus der Kunst, wurde parallel zur Weltkulturen-Ausstellung 1972 eine ausufernde Landschaft von vielgestaltigen, flachen oder aufgetürmten Einzelhäusern aus großen Pappen und Schachteln gebaut. In Reihen und platzförmiger Aufstellung geordnet, boten sie das Bild einer „Stadt“, die über Tage anwuchs und bunt bemalt und beschriftet wurde. Ähnliches ging bei Bauspielen auf Spielflächen am Fideliopark und am Harthof vor sich.In allen Fällen war zu beobachten, dass die Kinder oft noch vor Beendigung des Häuserbaus anfingen, diese zu bespielen. Aus den Schachteln oder Holzhäusern wurden Wohnungen, Läden und Geschäfte, Post, Hotel und Gasthaus. Verkaufstheken, Fenster, Türen und Vordächer wurden an- und eingebaut und auch Vorgärten angelegt. Damit nicht genug: In und um die Häuser begann nun ein reges Privat- und Geschäftsleben. Die Kinder wohnten, vermieteten, trieben Handel, übermittelten Nachrichten und vieles mehr – eine Form autopoetischer Aufführung, ein „Stadtleben“ ohne Drehbuch.

Es war dies ein vielfach zu beobachtendes Phänomen bei den pädagogischen Aktionen: die sich selbst stimulierende Phantasietätigkeit der Kinder wird immer dann in Gang gesetzt, wenn ihnen Material und Werkzeug zur Verfügung steht, am besten in breit gefächerter Fülle und undefinierter Verwendungsmöglichkeit.

Diese Erfahrung des spontanen Stadt-Spiels diente der späteren Spielstadt als Inspirationsquelle. Sie war der Auslöser, die faszinierende Aktionslust, die vitale und selbstgesteuerte Handlungsbereitschaft der Kinder ernst zu nehmen; ebenso ihre umstandslose Zielstrebigkeit, sich des Materials zu bedienen und Artefakte und Symbole der Erwachsenenwelt in ihr Spiel zu integrieren. Dies schuf das Vertrauen bei den Pädagog*innen, dass es gelingen könnte, diese originäre Form kindlicher Aneignungspraxis zu einem eigenständigen, groß angelegten Spiel auszubauen.

1979 ergab sich dazu die Gelegenheit. Die UNO-Generalversammlung hatte das Internationale Jahr des Kindes ausgerufen. Gleichzeitig wurde bei der UNO-Menschenrechtskommission eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die eine eigene Konvention über die Rechte des Kindes ausarbeitete (die Verabschiedung dauerte bis 1989). Während sich in Paris über 1000 Kinder aus 12 Ländern zu einer „Ersten Weltkonferenz der Kinder gegen das Elend“ trafen, dachte die Stadt München anlässlich des UN-Jahres an eine Großveranstaltung für Kinder, die diese in den Mittelpunkt stellte. Die Pädagogische Aktion und ihre Akteur*innen, der Stadt durch viele künstlerische und kulturpädagogische Programme bekannt, erhielt einen Teil der zur Verfügung stehenden Sondermittel, die Hälfte einer Sporthalle im Olympiapark und weitgehend freie Hand in der Planung einer Spielstadt.

Die Stadt als Spielthema  

Die aus Messewänden, Kulissen und ausrangierten Möbeln entstandene Spielstadt war der wohl erste Versuch, das Thema Stadt als Spiel in eine so systematische Form zu gießen, dass es als eigenständiges ästhetisch-künstlerisches Projekt für Kinder zum Ereignis werden konnte. In der Stadt verdichtet sich das gesellschaftliche Leben: Sie vereint politische, ökologische, ökonomische, soziale wie kulturelle und ästhetische Elemente und stellt diese in einem Gesamtzusammenhang dar – das macht das Stadtspiel pädagogisch so fruchtbar. Die Stadt ist eine Produktivkraft. Sie vermehrt Begegnungen und Kontakte, garantiert die schnelle Verbreitung von Ideen und Innovationen und sorgt für vielfältigen Informationsaustausch. Andererseits erfordert das Stadtleben eine permanente Orientierungsleistung, räumlich wie sozial: Es besteht aus Kommunikation, Kompromissen und Entscheidungen. Für all das ist die Spielstadt ein Erfahrungsfeld für Kinder. Dichte und Ernsthaftigkeit steigern sich entsprechend ihrer Inszenierung mit unterschiedlichen Milieus und Atmosphären: durch die aufgeschichtete Komplexität ergibt sich ein spannendes Spiel zwischen Informalität, Wildwuchs und regulierter Planung, an dem Kinder mit unterschiedlichsten Hintergründen teilnehmen.  

 

Um eine genuine Stadterfahrung ermöglichen zu können, orientiert sich die Spielstadt an ihrem realen Pendant und ist als Teil des öffentlichen Raums strukturiert: Aus Prinzip ist keine Anmeldung nötig, ist keine durchgehende Anwesenheit Pflicht, und ist nicht festgelegt, wer mitspielen darf – es gibt dafür keine beschränkenden Voraussetzungen. Die Teilnahme ist in Mini-München kostenlos. Diese Regularien sichern ein Stadtleben ähnlich der Stadt der Erwachsenen, in der man auch nicht weiß, wer Flaneur oder Tourist, auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkauf ist, von der Nachtschicht, aus dem Theater oder aus einer anderen Stadt kommt.

 



[1] Grüneisl, Gerd/ Zacharias, Wolfgang (1989): Die Kinderstadt. Eine Schule des Lebens. Handbuch für Spiel, Kultur und Umwelt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 


aus dem Inhalt:

Karl-Josef Pazzini nimmt die Leser*innen mit auf seine Reise nach Mini-München 1988. Er erkundet das Spielstadtgeschehen und hat dabei ein besonderes Auge für die Nischen und Unklarheiten im Konzept, die er als die wahren Spielanlässe sieht. Pazzini interpretiert Mini-München als ein Stadtspiel für Kinder und Erwachsene, das die Welt der Erwachsenen imitiert und zugleich unterwandert. Auf diese Form der “angstnehmenden Mimesis” kommt Pazzini auch in seinem abschließenden Nachwort zu sprechen, in dem er seinen Spielstadtbesuch 32 Jahre später noch einmal Revue passieren lässt.

        Horst Rumpf stellt sich in seinem Text die Frage nach dem Ernst des Spiels und diskutiert die Spielstadt als eine phantastische, aber dennoch sehr ernsthafte soziale Wirklichkeit, welche die Kinder nicht von der „realen“ Welt abführt, sondern vielmehr darin verwickelt und sie auffordert, dieses soziale Gewebe produktiv zu hinterfragen.

        Das Verhältnis von Spiel und Wirklichkeit steht auch im Zentrum des Beitrags von Gisela Wegener-Spöhring, die in Mini-München eine “konkrete Utopie” erkennt und die Bedeutung von Rollen und Regeln im Spiel erörtert.  Sie taucht mit den Leser*innen tief in die Geschehnisse der Spielstadt ein und versucht dabei, die verschwimmenden Grenzen zur Realität auszuloten.

 

        Gerd Selle hingegen verweilt bei seinem Besuch in Mini-München 1992 zunächst in einiger Distanz, statt sich umgehend vom Trubel des Geschehens einnehmen zu lassen und nimmt die Spielstadt in ihrer Übersicht als Raumereignis wahr. Selle liest die Spielstadt als einen bildhaften Ort, der zur Projektionsfläche erinnerter Bedürfnisse wird. Ausgehend von dieser Idee diskutiert sein Aufsatz Das verborgene Bild die verschiedenen Qualitäten der Erfahrung eines Ortes, dessen ästhetischen Anforderungen und daraus folgenden Aneignungsprozesse.

Die Impressionen Hans Scheuerls konzentrieren sich auf das aktive, vertiefte und selbstvergessene Spiel der Kinder. Er reflektiert die Bedeutung der Solidargemeinschaft von Mitspieler*innen, zu der auch Falschspieler und Spielverderber gehören und fragt nach den Auswirkungen von Negativerfahrungen und der Belastbarkeit des Spiels. Zudem geht Scheuerl der Spielmotivation der Kinder auf den Grund.

 

        Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive deutet Wolfgang Sting die Spielstadt als ein großes Schau-Spiel, genauer: als kollektiv performative Kunstaktion, bei der die andauernde Aufführung als Spiel der Kinder durch die bewusste Inszenierung des Spielraums von Erwachsenen ermöglicht wird. Sting legt dar, dass das produktive Moment der Spielstadt im Performativen liegt: aus dieser ästhetischen Praxis erwachse neben einem besonderen Bildungspotenzial auch eine Widerständigkeit gegenüber didaktischen Zugriffen.

      Die Stadt gehört allen – ausgehend von diesem Grundsatz diskutiert Max Fuchs die Aneignung der Stadt durch die Kinder und die selbstbestimmten und freiheitlichen Formen der Bildung. In einer aktuellen Ergänzung seines Aufsatzes von 2010 blickt er mit Sorge auf die Entpolitisierung der kulturellen Bildung und den Verlust ihres emanzipativen Impulses. Mini-München erschließt für Fuchs neue Arbeitsformen im Umgang mit Sinnlichkeit in Zeiten der “smarten” Stadt.

 

  

        Als Aneignungsraum charakterisiert auch Ulrich Deinet die Spielstadt und hebt dabei besonders Aspekte von Materialität und Motorik hervor. In diesem Zusammenhang geht er auch auf die Bedeutung und Prinzipien der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ein, nach denen Mini-München strukturiert ist. Deinet beleuchtet die Spielstadt als eigenen Sozialraum und temporären Partizipationsort in der Bildungslandschaft und wirft die Frage auf, inwieweit die Spielstadt einen Beitrag zur politischen Bildung leistet.

        Unterschiedliche Antworten darauf finden sich in den drei folgenden Beiträgen, die sich der Spielstadt mit dem Begriff der Republik nähern. So greift Bazon Brock in seinem aktuellen Text eine Frage auf, die er erstmals anlässlich des Sommerabends der kulturellen Bildung 2008 gestellt hat: „Warum von Kindern lernen?“ Die neuerliche Antwort, die er in Mini-München: Republik der Lernenden formuliert, zielt auf die Parallelen zwischen der individuellen Entwicklung der Kinder und dem Erlernen der Demokratie als kollektiver Realisierung von Freiheit. Kritisch nimmt er die Rolle der kapitalistischen Gesellschaft und die befreienden Potenziale des Spiels in der Spielstadt in den Blick.

        Jürgen Oelkers untersucht die Spielstadt vor dem Hintergrund von John Deweys Hauptwerk Democracy and Education als demokratischen Lern- und Erfahrungsraum in Abgrenzung zur Schule. Er diskutiert die Qualitäten der Problemstellungen, Begegnungen und Interaktionen, die in alternativen Bildungsräumen ermöglicht werden und ihre Bedeutung für die Demokratie als Lebensform.

        Mit der politischen Bedeutung der Spielstadt befasst sich auch Joscha Thiele, der Mini-München durch die Lupe der historischen Kinderrepubliken der “Roten Falken” in den 1920er Jahren betrachtet. Er begreift die Spielstadt weniger als eine Möglichkeit zur politischen Bildung denn sie selbst als öffentliches politisches Ereignis, bei dem Spiel und Arbeit der Kinder einen utopischen Horizont eröffnen.

        Historische Referenzen stehen ebenfalls im Fokus des Beitrags der AG Spielclub aus Berlin. Der Aufsatz reflektiert die zeitgenössische Wiederaufführung eines frühen antikapitalistischen Spiels aus dem Jahr 1971, dem “Fest” im Märkischen Viertel in Westberlin. Die Neuauflage greift den Versuch der spielerischen Integration ökonomischer Bildung des historischen Vorbilds auf, indem sie eine Kreuzberger Straße nachstellt und Fragen des Ausverkaufs des Stadtraums thematisiert.

        Zeitbezüge spielen wiederum im Beitrag von Mirja Reuter eine entscheidende Rolle. Sie widmet sich der Zeit als strukturierendem Element der Spielstadt und untersucht die Verbindungen einzelner Zeitlichkeiten – darunter Arbeitszeit, Wartezeit, elternfreie Zeit und Leerlauf – im Spielstadtgeschehen. Reuter stellt fest, dass die Kinder sich im Laufe der Spielzeit von rhythmisierenden Strukturen entfernen und zu einer Intensivierung von Eigenzeiten gelangen. Ihre letzte Frage, wann das Spiel zu Ende ist, können nur die Kinder beantworten.

 

        Dem Aufsatz von Oskar Negt kommt in diesem Buch eine Sonderstellung zu: als einziger Beitrag bezieht er sich nicht explizit auf die Spielstadt. Der von ihm ausgeführte Begriff der Kinder-Öffentlichkeit als Produktionsprozess von Erfahrungen nimmt jedoch in der historischen Entwicklung der Spielstadtidee und dem Selbstverständnis der Initiator*innen eine wichtige Rolle ein. Negt versteht Kinder-Öffentlichkeit als kollektive Ausdrucks- und Lebensstruktur, durch die Kinder einen eigenen Interpretationsrahmen der Wirklichkeit entwickeln können. Kinder-Öffentlichkeit wohnt das Paradoxon inne, das sie aus Herrschaftsstrukturen erwächst und diese dennoch aufbrechen kann.